Meine Nerven! Das Austernfischer-Drama spitzt sich zu

Am Freitagnachmittag hatte ich euch [hier] noch von der süßen Austernfischerfamilie erzählt, die plötzlich durch unseren Garten spaziert ist. Schon am Samstagmorgen nahm der erste Familienausflug eine dramatische Wendung.

Akt 1

Der Tag begann ganz entspannt. Gegen 5 Uhr morgens hörte ich die Eltern im Garten rufen und freute mich, dass wohl alles in Ordnung war. Gegen 7 setzte ich mich mit meinem Journal und einer großen Tasse Chai Latte auf den Balkon, um mein Leben und den neuen Rabenvögel-Kurs zu planen.

Das fiel mir allerdings sehr schwer. Denn ich hörte auf der Straße einen Austernfischer rufen, mindestens genauso aufgeregt wie am Vortag.

Mama-oder-Papa lief schnellen Schrittes mal hierhin und mal dorthin: den Bürgersteig entlang, auf die Straße, zurück auf den Bürgersteig, die Einfahrt hinauf, hinüber zur andere Straßenseite und wieder zurück. Zwischendurch flog er immer mal wieder auf unser Haus oder auf das gegenüberliegende und rief und rief und rief.

„Aha“, dachte ich. „Die Minis sind hier irgendwo auf Erkundungstour.“

Der Austernfischer lief eifrig hin und her und hatte zwischendurch auch Futter im Schnabel. Nur ausgeliefert hat er es nicht. Das hätte mich stutzig machen können.

Akt 2

Mit dem Fernglas suchte ich die Umgebung ab, schaute genau in die Bodendecker vorm Nachbarhaus, unter die Sträucher, aber ich konnte die Küken nicht erspähen. Ich wusste jedoch, dass sie in der Nähe sein mussten, denn ich hörte leise Rufe.

Dass die Minis immer mal für eine Weile im Gebüsch verschwinden, kannte ich vom Vortag. Ich widmete mich also wieder meinem Chai und den Planungen.

Das elterliche Rufen vom Dach verstärkte sich regelmäßig, nämlich immer dann, wenn sich Menschen mit Hunde einem Gebüsch näherten.

„Aha“, dachte ich. „Nachtigall, ik hör dir trapsen.“

Akt 3

Dann kam eine Dame auf einem Fahrrad. Sie stieg ab und sah interessiert hinauf zu dem laut rufenden Austernfischer auf dem Dach. Sie sah aber auch ins Gebüsch und schaute lange in den Bodendeckern umher. Schließlich schlenderte sie langsam weiter, blieb wieder stehen, lauschte – und ging zu einem Gully am Straßenrand.

Mir schwante Schlimmes.

Auch in den Gully schaute die lange hinab, lauschte wieder – und griff dann zu ihrem Telefon.

Wenig später kam die Feuerwehr.

Erstmal die Lage checken: Da unten? Jawohl, da unten!

Akt 4

Vier Männer in Vollmontur entstiegen dem Einsatzfahrzeug. Sie besahen sich die Lage und schritten zur Tat.

Sie hoben den Gullydeckel hoch. Einer von ihnen legte sich auf den Boden und griff beherzt hinunter. Doch das Küken lief offenbar den Schacht entlang, in Richtung eines anderen Eingangs.

Kleiner Exkurs: Gullys sind direkt unter der Oberfläche waagerecht miteinander verbunden. Das war mir gar nicht klar. Dir? Ich zeige dir mal einen Querschnitt, aus dem deutlich wird, wo das Küken saß:

Solch einen Schlammeimer, wie auf dem Bild unter dem Einfluss, scheint es hier nicht zu geben. Stattdessen saß das Küken wohl direkt im Ablaufschacht, dieser Vertiefung.

Warum habe ich eigentlich nicht im Sachunterricht in der Grundschule gelernt, wie das Regenwasserablaufsystem funktioniert, hm? Sogar die Sendung mit der Maus hat mich im Stich gelassen!

Zurück zu unserem Küken. Das saß also im Ablaufschacht zwischen zwei Gullys, irgendwo unter dem Bürgersteig.

Die Feuerwehr entrollte einen ihrer Wasserschläuche und spritzte durch den anderen Gully Wasser in den Schacht. Der Feuerwehrmann lag derweil weiterhin bäuchlings auf dem Boden, beide Arme im Gullyschacht.

Ich war erst ein bisschen skeptisch. Schließlich weiß ich vom Tiernotruf, dass man oft Spezialausrüstung braucht, um einen Vogel zu retten. Und das mit dem Wasserschlauch sah echt ein bisschen fies aus. Aber sind wir mal ehrlich: Ich habe keine Ahnung!

Die Feuerwehr offenbar schon, denn nur wenig später hielt der Feuerwehrmann das Küken in den Händen.

Meine Nerven, das war wirklich spannend! Was, wenn das Mini vorbeigetrieben wäre?

Akt 5

Das Austernfischerküken wurde vorsichtig in eine Grünfläche gesetzt und das Elternteil war sofort zur Stelle! Es breitete seine Flügel aus und das Küken kroch darunter.

Die Feuerwehr packte schnell zusammen und war – zack – wieder verschwunden. Die ganze Rettungsaktion hat mit allem drum und dran weniger als 10 Minuten gedauert.

Ui, das waren aber zwei froh, dass sie wieder zusammen waren!
Und zack-bumm war das Küken unter Mamas Gefieder verschwunden. Nur die kleinen Beinschen guckten noch raus.

Epilog: Was es noch zu berichten gibt

Der Austernfischer auf dem Dach war spätestens seit Eintreffen der Feuerwehr mucksmäuschenstill. Zwischendurch saßen beide Elternteile auf dem Dach und beobachteten die Rettungsaktion.

Das gerettete Küken hielt sich noch eine Weile im Bereich der Unglücksstelle auf, also in unmittelbarer Nähe zum Bürgersteig. Bei jedem sich näherndem Hund blieb mein Herz stehen.

Am späten Vormittag verschwand das Küken und seine Eltern endgültig hinter dem Nachbarhaus und kamen nicht mehr zurück. Auch ihre Rufe waren nicht mehr zu hören.

Das zweite Küken habe ich nicht mehr gesehen.

6 Erkenntnisse aus diesem Abenteuer

  1. Die Feuerwehr hilft tatsächlich in der Tiernotrettung. Unsere scheint bei Austernfischerküken-Rettungsaktionen eine erfahrene und kompetente Anlaufstelle zu sein.
  2. Austernfischer nehmen gar nicht zwangsläufig den direkten, geteerten Weg zum Strand, nur weil wir das immer so machen. Stattdessen wählen sie eigene, grünere Wege. Verblüffend, dass ich ernsthaft fürchtete, sie würden die Straße hoch zum Deich gehen.
  3. Johanna Romberg rief mir das Stockenten-Shuttle in Berlin in Erinnerung. Stockenten, die in Balkonkästen schlüpfen, werden damit zu einem geeigneten Gewässer in der Nähe gebracht. Solch ein Shuttle sollte sich doch hier auch einrichten lassen, oder? (S. – wenn du das hier liest: Was meinst du? Lass uns da mal drüber reden!)
  4. Straßenablauf, Regenwassereinlauf, Gully, Kanaldeckel – wie wenig ich über die Welt direkt vor meiner Haustür weiß!
  5. Zusätzlich zu all den anderen Gefahren, die ich schon auf dem Schirm hatte, können Austernfischerküken auch in Gullys fallen. Ihr Leben in der Stadt ist noch viel gefährlicher als ich dachte.
  6. Die wahre Heldin dieser Geschichte ist für mich die Dame mit dem Fahrrad. Anders als ich auf meinem Balkon hat sie die Situation erkannt und sofort Hilfe gerufen. Ihr ist es zu verdanken, dass das Küken schnell gerettet werden konnte. Vorbildlich!
Abenteuer gut überstanden. Abgang Küken und Mama, die Hauptdarstellerin*innen dieses Dramas.

Mehr über Austernfischer erfährst du in diesem Beitrag: Austerfischer, Frisenstorch, Strandelster.

BIst du auch so erleichtert, dass dieses Drama gut ausgegangen ist? Hättest du gewusst, wie so ein Abwassersystem aufgebaut ist? Und vor allem: Hast du schon mal die Feuerwehr für eine Vogelrettung gerufen?

von | 5. Aug. 2025 | Tagebuch

aktualisiert:
6. Aug. 2025

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Wissensbuch des Jahres 2024: „Die Superkräfte der Vögel“

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4 Kommentare

  1. So schön und berührend wir du das schreibst. Danke für den spannenden Bericht und alles Liebe dir!

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    • Hach, danke liebe Stefanie, für diese schöne Rückmeldung ♥️ Dir auch alles Gute.

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  2. Wow! Ganz gebannt habe ich die Rettung des Austernfischer-Kükens verfolgt! Danke für diese Geschichte, die glücklicherweise gut ausgegangen ist.

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    • Liebe Ute, wie schön, dass du mitgefiebert hast. Danke für deine Nachricht.

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