Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass ich aus der Mitte Deutschlands an die Nordsee gezogen bin. Ein Grund, warum ich mich sehr auf das neue Zuhause gefreut habe, waren die Vögel. Das Wattenmeer ist eine der wichtigsten Drehscheiben des internationalen Vogelzugs und das liegt jetzt wortwörtlich genau vor meiner Haustür.
Ich freute mich auf die Austernfischer in meiner Nähe, all die Möwenarten am Himmel und die flitzigen kleinen Sanderlinge am Spülsaum, die bald zu meinem Alltag gehören würden. Was ich nicht so richtig auf dem Schirm hatte, bevor ich an die Küste zog: Durch den Umzug habe ich auch Vogelarten verloren. Und diese Verluste haben mich mehr beschäftigt, als ich das hätte ahnen können.
„Beginnings always hide themselves in ends.“
etwa: „Anfänge verbergen sich immer im Ende“
Bilanz
Nach einem Jahr, da ich alle Jahreszeiten an der Küste einmal erlebt und durchlebt habe, ist es Zeit für eine Bilanz: Wie hat sich meine alltägliche Vogelwelt durch meinen Umzug verändert?
Vogelarten, die ich durch meinen Umzug ans Meer verloren habe
- Nachtigall
Nachtigallen gehörten in Mitteldeutschland im Sommer zu meinem Vogelguckerin-Alltag und ich wusste immer, wo ich eine finde konnte. Hier singt wirklich weit und breit keine! - Goldammer
Eine Goldammer sang mal kurz im Frühling auf den Feldern in der Nähe, aber danach habe ich sie lange weder gehört noch gesehen. In meinem alten Leben begleiteten sie mich akustisch durch den Sommer und gehörte das ganze Jahr über mit zu meinen Standardarten. - Nilgans
Zwischen all den Ringel- und Weißwangengänsen am Himmel erspähe ich keine Nilgänse. Früher traf ich sie bei jedem Ausflug zum See. - Graugans
Auf Schritt und Tritt begleiteten sie mich früher bei meinen Ausflügen. Oft musste ich ihnen regelrecht ausweichen, den alten Wegelagererinnen. Sie gehörten das ganze Jahr über zu meinem ornithologischen Alltag. Jetzt höre ich sie, wenn überhaupt, nur im Überflug. - Mein Buchfink
Der Buchfink in meinem alten Viertel hatte so einen speziellen Überschlag. Er hat mir schon gefehlt, bevor ich wegzog. Nirgendwo sonst habe ich das jemals so schön gehört. - Meine fliegenden Mitarbeiterinnen (aka: Stadttauben)
Jeden Tag kamen sie zu mir, saßen auf meiner Fensterbank, chillten auf dem Balkon. Sie unterhielten und motivierten mich, sie heiterten mich auf und brachten Leben in die Bude. Ich lerne durch sie, genauer hinzusehen, still zu stehen, Vogelfreundschaften zu schließen. Sie fehlen mir. - Baumfalke
Über mehrere Brutzeiten lang traf ich zuverlässig an der einen Stelle Baumfalken. Im Frühsommer saß ich abends auf einer Bank und beobachtete sie. Hier oben habe ich noch keine getroffen. - Rotmilan
Schon in meiner Kindheit waren die „Gabelweihen“ ein vertrautes Bild am Himmel. In meiner neuen Heimat sah ich höchstens mal einen auf Stippvisite. - Dorngrasmücke
Den einen Busch, in dem Jahr für Jahr eine Dorngrasmückenfamilien wohnt, muss ich hier oben erst wieder finden. - Wacholderdrossel
Weg. Einfach weg.
Kleine Verlustgeschichte zwischendurch
Haussperlinge: Im Garten unserer alten Wohnung wohnte viele Jahre eine Spatzengäng. Sie brüteten oben im Dach und turnten ansonsten durch die Hecke. Sie futterten die Meisenknödel, tranken aus den Wasserschalen und erfreuten mich mit ihrem Getschilpe und Gezwitschere. Bis die Fassade des Hauses in dem wir wohnten renoviert wurde und die Arschgeigen die ersatzlos Brutplätze verschlossen, obwohl die Untere Naturschutzbehörde aufgrund unseres mehrfachen Nachhakens die Hausbesitzer dazu aufgefordert hatten, für alternative Brutmöglichkeiten bereitzustellen. Die Haussperlinge verschwanden sang- und klanglos und hinterließen Stille.
Umso erfreuter war ich, als ich beim Einzug die Spatzengäng im Innenhaus unseres neuen Hauses bemerkte. Sie turnten durch das Gebüsch, das die hässliche Betonmauer zum Nachbargrundstück verdeckte. Schon morgens ihre Stimmen zu hören machte mich sehr froh – ungefähr eine Woche lang. Dann kamen Mitarbeitende der Gartenbaufirma und „räumten auf“. Wie „schön“, dass wir jetzt die graue, unverputzte Mauer sehen konnten und wieder Ruhe herrschte. Die Haussperlinge waren weg.
Auch hier: Null Problembewusstsein bei den beteiligten Entscheidungsträger*innen. Leute, das müssen wir doch ändern!
Vogelarten, die ich durch meinen Umzug ans Meer dazugewonnen habe
- Dohlen, ganz nah um mich
- Austernfischer auf dem Dach
- Eiderenten, eine besondere Freude
- Brachvögel
- Kornweihe
- Rotschenkel
- Blaukehlchen
- Lachmöwen
- Saatkrähen
- Sanderlinge
Eine Vogelart, die ich überraschenderweise behalten habe:
Schwarzspecht: Ich hatte nicht erwartet, hier oben an der Küste einem Schwarzspecht zu begegnen, schließlich brauchen Schwarzspechte alten Baumbestand, um zu brüten. Die paar Bäumchen hier oben erschienen mir nicht ausreichend. Aber ich hatte mich geirrt: Unser Schwarzspecht lässt sich sogar in der Küstenheide blicken und so hörte ich ihn manchmal auch, wenn ich am Strand sitze. Vögel lesen echt keine Vogelbücher.
Fazit
Meine Bilanz nach meinem ersten Jahr an der Küste zeigt einmal mehr, dass man bei der Vogelwelt nicht alles haben kann. Vogelarten setzen sich überall anders zusammen, jede Art bevorzugt ihren eigenen Lebensraum.
Es gibt keine langweiligen Arten. Spätestens wenn sie weg sind, fehlen die Normalos. Ich finde es wichtig, dass wir die Vogelarten wertschätzen, die jetzt gerade da ist.
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