Darum geht’s
Magdalena und Oskar Heinroth widmeten viele Jahre ihres Lebens der Aufzucht von Vögel und der Dokumentation dieser Entwicklungen. Ihr Ziel war es, mindestens ein Exemplar von jeder Vogelart Europas aufzuziehen, „vom Kranich bis zum Goldhähnchen“ (S. 97). So zogen sie 28 Jahre lang in den Vogelzimmern ihrer Berliner Wohnung über 1.000 Individuen auf.
Die Aufzucht der Jungvögel beobachteten und dokumentierten sie sehr genau mit Aufzeichnungen und unzähligen Fotografien. Es ging ihnen dabei nicht um die allgemeinen äußerlichen Beschreibungen, wie sie bis dahin üblich waren, sondern um die Entwicklung und das Verhalten der Vögel. Sie gelten damit als Begründer der modernen Verhaltensforschung (Ethologie).
Ab 1924 veröffentlichten sie 286 Vogelportraits und rund 4.000 ihrer Fotos in dem vierteiligen Werk Die Vögel Mitteleuropas (genauer gesagt trägt das Werk den aussagekräftigen Titel: Die Vögel Mitteleuropas – in allen Lebens- und Entwicklungsstufen photographisch aufgenommen und in ihrem Seelenleben bei der Aufzucht vom Ei an beobachtet von Dr. Oskar und Frau Magdalena Heinroth. In Fachkreisen wird er mit VM abgekürzt).
Trotz dieser verblüffenden und innovativen Leistung sind die Heinroths, ihre Forschung und ihr Werk inzwischen aus dem Blick geraten. Diese zu würdigen und dadurch wieder mehr ins Bewusstsein zu bringen, nahmen sich Karl Schulze-Hagen und Gabriele Kaiser, die Autor:innen (oder sollte man sagen Herausgeber:innen?) von Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung, vor.
Die ersten drei Kapitel der Vogel-WG widmen sich der Entstehungsgeschichte von Die Vögel Mitteleuropas mit einem klaren Fokus auf das Leben und Wirken von Oskar Heinroth. Im Anschluss folgen bearbeitete Auszüge aus dem Heinrothschen Werk. Ergänzt werden die Texte durch Bildseiten, die vor allem Dokumentationsfotos aus der Arbeit der Heinroths zeigen.
Was ich davon halte
Bei aller Vorfreude auf das Buch und großem Interesse für das Thema hat mich Die Vogel-WG ratlos zurückgelassen. Ratlos, weil ich nicht so ganz schlau daraus werde, was das Buch will. Die Einführung erzählt von den interessanten Umständen, unter denen Die Vögel Mitteleuropas entstand. Dabei bleiben die Autor:innen einerseits an der Oberfläche und fokussieren sehr auf Oskar Heinroth, erzählen aber andererseits von Begebenheiten, die nichts mit der Entstehung des Werks zu tun hatten. Auch scheint die Zielgruppe nicht klar zu sein.
Die Autor:innen haben sich viel Mühe gegeben, die Umstände unter denen Die Vögel Mitteleuropas entstand, zu recherchieren und darzulegen. Die Einleitung lässt staunen über das Engagement und die Entschlossenheit, mit denen Magdalena und Oskar Heinroth ihr Mammutprojekt verfolgten. Die Einblicke darin, wie die Heinroths ihren Alltag und auch ihre Forschungsobjekte organisierten, sind anschaulich und interessant beschrieben. Auch wird sehr deutlich, wie groß die Anstrengungen und Entbehrungen waren, die beide Heinroths in Kauf nahmen, um ihr Werk zu vollenden.
Die Auswahl der Ausschnitte aus dem Original ist zwar ebenfalls unterhaltsam, jedoch sehr episodenhaft. Um lediglich einen Einblick in den lockeren Plauderton der Heinroths zu geben, in dem Die Vögel Mitteleuropas geschrieben wurde, sind es zu viele Texte. Für Vogelbegeisterte, die sich für die Beobachtungen und Erkenntnisse interessieren, ist die Auswahl zwar grundsätzlich interessant und locker zu lesen; sie wirft jedoch nur kurze, wenig erhellende Schlaglichter auf einzelne Arten. Wissenschaftsinteressierte werden aus der Auswahl einen kleinen Einblick in die Anfänge der Verhaltsbiologie gewinnen können, was in dieser Knappheit ebenfalls unbefriedigend bleiben muss.
Die Einordnung der Ausschnitte in den heutigen Forschungsstand oder die Erläuterung ihrer Bedeutung für die Entstehung der Verhaltsforschung hätten das Buch für mich sehr bereichert. Auch werden Fachbegriffe oder biologische Phänomene nur selten erläutert, was diese Passagen für weniger ornithologisch Interessierte unverständlich macht.
Immer wieder stieß mir beim Lesen auf, dass die Leistungen von Magdalena und auch von Katharina zwar erwähnt werden, die beiden aber eher oberflächlich behandelt werden. In Die Vogel-WG liegt der Fokus eindeutig auf Oskar. Magdalena und Katharina werden eher als seine Mitarbeiterinnen gesehen, statt als gleichberechtigte Partnerinnen (vgl. u.a. S. 83). Aber da die Autor:innen Magdalena Heinroth bereits am Anfang des Buches unterstellen, dass sie in den Objekten ihrer wissenschaftlichen Forschungsarbeit „vielleicht auch so etwas wie ihre Ersatzkinder“ (S. 35) sah, wundert dieser altertümliche Blick auf das Gemeinschaftswerk der Heinroths kaum.
Unglücklich finde ich, dass die Einleitung und der Originaltext ineinander übergehen, ohne dass sie eindeutig voneinander getrennt sind. Auch die Originaltexte wurden nach Angaben der Autor:innen bearbeitet, ohne dass dieser Eingriff kenntlich gemacht wurde. Nur die wichtige und hilfreiche Aktualisierung der damals verwendeten Namen ist nachzuvollziehen.
Auch die Gestaltung des Buches hat mich nicht überzeugt: Mit durchgehender Schmuckfarbe, vereinzelten Farbabbildungen, Lesebändchen und dekorativen Vogelsilhouetten, die im Buch verstreut sind, macht das Buch auf den ersten Blick etwas her. Die zahlreichen, gut ausgewählten Abbildungen werden an mehreren Stellen des Buches auf Bildseiten zusammengestellt. Spätestens im zweiten Teil hätte ich mir die Bilder an den betreffenden Textstellen gewünscht. Unschön ist ebenfalls, dass Überschriften mehrfach einsam am Seitenende stehen und der entsprechende Text erst auf der folgenden Seite einsetzt.
Fazit
Das Buch würdigt die sehr interessante Pionier- und Forschungsarbeit der Heinroths und die Entstehungsgeschichte von Die Vögel Mitteleuropas, die in Vergessenheit geraten ist. Zu sehen, wie zwei Vogelverrückte ihre Leidenschaft ausleben und ihre Ziele trotz aller Widrigkeiten verfolgen, ist sehr interessant und lesenwert.
Eine ausführlichere, refllektiertere Einleitung und die Einordnung der ausgwählten Textstellen sowie die Konzentration auf weniger Arten im zweiten Teil hätten das Buch für mich bereichert. Auch hätte man diese Auswahl der Originaltexte in den Haupttext einbetten und so besser einordnen und erläutern können – aber damit wäre es wohl ein gänzlich anderes Buch geworden.
Die vier Bände von Die Vögel Mitteleuropas wurden inzwischen digitalisiert. Sie sind über die Webseite der Staatsbibliothek zu Berlin zugänglich. Es macht Spaß, darin zu stöbern und die Auschnitte aus dem Buch im Zusammenhang zu lesen. Dazu wurde ich durch die Lektüre dieses Buches angeregt. Somit ist die Intention der Autor:innen, das Werk der Heinroths wieder zurück in die Öffentlichkeit zu bringen, trotz all meiner Kritikpunkte, geglückt.
Karl-Schulze Hagen, Gabriele Kaiser: Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung. Knesebeck-Verlag 2020. 271 Seiten. 978-3-95728-395-5
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Ergänzend gibt es ein interessantes Radiofeature „Pioniere der Vogelforschung – Oskar und Magdalena Heinroth“ von Silke Merten in der Mediathek des SWR.
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