Seltener Wintergast an der Nordseeküste: Mein erster Gleitaar

Er rüttelt eine ganze Weile mit langsam rudernden Schlägen in der Luft und lässt sich dann mit hochgestellten Flügeln hinuntergleiten. So jagt ein Gleitaar. Und ausgerechnet einer dieser südlichen Greifvögel tauchte pünktlich zum Adventsbeginn bei uns an der Nordseeküste auf, machte es sich in einem Revier gemütlich und blieb ganze zehn Tage im Dezembergrau.

Als ich zum ersten Mal in unserer lokalen Ornigruppe davon las, nahm ich die Meldung nur so semi ernst. Ich kam grade aus dem Abschlusslive meines Kurses „Endlich Vögel sehen!“, war hungrig und ging davon aus, dass der Vogel vorbeifliegend gesehen worden war. Aber zwei Stunden später meldete jemand „stationär!“ und plötzlich war ich wie elektrisiert.

Gleitaare leben eigentlich viel weiter südlich. Sie kommen aus dem subsaharen Afrika und brüten inzwischen auch in Portugal, Spanien und ein paar wenige in Frankreich. Sie kommen relativ selten nach Deutschland. Dieser hier war erst die zweite Sichtung in unserem Landkreis überhaupt.

Gleitaare sind charismatische Vögel. Sie sind ungefähr so groß wie Turmfalken. Ihr Gefieder ist überwiegend hell: der Körper und die Unterseite sind weiß, die Flügel hellgrau und er hat mit markante schwarze Schultern. Der Schwanz ist sehr kurz, was ihn kompakt wirken lässt. Besonders auffällig bei erwachsenen Gleitaaren sind seine leuchtend roten Augen und die kräftig-gelben Beine. Durch diese Kombination aus weiß, hellgrau, dunkelgrau, gelb und rot ist der Gleitaar unverwechselbar – wenn man ihn denn vernünftig sieht.

Durch die roten Augen und das helle Gefieder eigentlich unverwechselbar: der Gleitaar

Ich hatte vorher noch nie einen gesehen. Als er ein paar Tage später immer noch da war, organisierte ich also ein Mietauto [warum wir kein Auto haben] und ging ihn in seinem neuen Revier besuchen. Statt Brot und Salz nahm ich lieber einen dicken Schal und Handschuhe mit. Es waren 3 Grad mit ordentlichem Küstenwind und Nieselregen.

Als ich um die Ecke kam, sah ich ihn schon im Baum sitzen. Er wirkte von Weitem eher wie ein Blatt, statt wie ein majestätischer Greifvogel, aber ein Blick durchs Fernglas offenbarte seine Schönheit. Er saß im Baum und putzte sich hingebungsvoll.

Von Weitem wirkt der Gleitaar eher wie ein Blatt als wie ein majestätischer Greifvogel. Aber der Eindruck täuscht.

Nachdem ich ihn dabei eine ganze Weile beobachten konnte, und derweil schon kalte Füße bekommen hatte, erhob er sich in die Luft. Er flog aber nicht weit. Bloß so hundert Meter auf das Feld, das vor ihm war, parallel zu der Straße, an deren Rand ich stand. Und dort begann er zu jagen.

Ehrlicherweise klingt das aktionreicher als es ist. Gleitaare fliegen nicht in schnellen Sturzflügen oder scheuchen bei der Jagd Tausende Gänse auf. Sie stehen in der Luft und rütteln. Ungewöhnlich fand ich dabei auch, dass er nicht nur stur nach unten schaute, sondern häufig den Kopf nach rechts und links dreht. Außerdem ließ er immer wieder seine Füße sinken und herabhängen. Spätestens als er sich absinken lassen, sah ich, wo sein Name herkommt: Er hielt die Flügel in V-Form nach oben und ließ sich stufenweise zu Boden sinken. Das wirkte fast schwebend und erinnerte mich ein bisschen an einem hydaulischen Lift.

Sein Aussehen und auch seine Flugweise sind ziemlich einmalig. Mit seinen langen Flügeln rudert er in der Luft. Auf Langstrecke hat er zwischendurch immer wieder Gleitphasen. Beim Rütteln schlägt er langsamer mit den Flügeln als ein Turmfalke. Trotzdem wirkt er dabei unruhiger, weil er ungleichmäßiger zu schlagen scheint und die Schläge langsam genug sind, um sie wahrzunehmen. Praktischerweise kamen während meiner Beobachtungszeit auch gleich noch eine Kornweihe, ein Mäusebussard und ein Turmfalke vorbeigeflogen, so dass ich sie gut vergleichen konnte.

Blick zum Boden, die Füße voran: So lässt sich ein Gleitaar bei der Jagd nach unten sinken.

Besonders beeindruckend fand ich seine Erfolgsquote bei der Jagd. Ich sah nur einen einzigen Fehlversuch. Bei allen anderen Anflügen war er erfolgreich und pflückte sich jedes Mal ein kleines Säugetier in Mausgröße aus dem Feld. Mit seiner Beute setzte er sich immer wieder in einen der Bäume, zerpflückte und fraß sie und machte anschließend ein kleines Päuschen, bevor er nach 15 bis 20 Minuten wieder jagen ging.

Den ersten Teil seines Namens haben wir jetzt also entschlüsselt. „Gleit“ kommt von seiner Flugweise. Der zweite Teil seines Namens „Aar“ ist nicht nur der Name von mehreren Flüssen in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden – was mich ehrlich gesagt lange verwirrt hat. Inzwischen weiß ich, dass es in diesem Fall ein altes Wort für Adler ist. Sein englischer Name black-shouldered kite oder auch black-winged kite heißt „schwarzschultriger“ oder „schwarzflügliger Milan“. Das beschreibt zwar sein Aussehen auch ganz okay, allerdings gehört der Gleitaar nicht zu den Milanen, sondern zur Gattung der Gleitaare. [Häh, Gattung? Hier erfährst du mehr über die Systematik der Vögel.]

Zurück zu Hause musste ich den Gleitaar dann erstmal ganz stolz in meine Vogelliste 2025 eintragen. Natürlich habe ich mich mega gefreut, dass ich den Gleitaar so gut beobachten konnte. Er machte mich aber auch nachdenklich:

Unwirklich, gespenstisch, schön: Wenn der Gleitaar rüttelt, ist das schon was anderes als bei einem Turmfalke oder einem Mäusebussard.

Auch wenn dieser einzelne Gleitaar für mich eine tolle Vogelüberraschung mitten im grauen Dezember war, so erzählt seine Anwesenheit mehr als nur eine schöne Beobachtungsgeschichte. Durch den Klimawandel verschieben sich die Lebensräume einiger Arten langsam nach Norden. Vögel, die früher zuverlässig im Süden blieben, tauchen plötzlich in Regionen auf, in denen sie noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen wären. Noch ist jeder Gleitaar in Deutschland eine Seltenheit und ein Geschenk. Solche Sichtungen zeigen aber auch, wie sich unsere Vogelwelt im Stillen verändert. Es ist gut möglich, dass Gleitaare in nicht allzu ferner Zukunft zu unseren Alltagsarten gehören werden.

Solche Vogelüberraschungen erinnern mich aber auch daran, aufmerksam zu bleiben. Wäre nicht zufällig ein Ornithologe vorbeigekommen und hätte der Gleitaar zu dem Zeitpunkt nicht zufällig gejagt, wäre er vielleicht gänzlich unbemerkt geblieben. Wie viele andere fliegende Besuchende kommen wohl zur Stippvisite zu uns, ohne dass sie jemand bemerkt? Es lohnt also, die Augen offen zu halten. Mit Überraschungen ist immer zu rechnen.

Ciao Kakao: Am 10. Dezember 2025 zog der Gleitaar weiter. Weihnachten wollte er vielleicht doch lieber bei seiner Familie im Süden verbringen als bei uns im Norden hinterm Deich.

Noch mehr von seltenen Wintergästen an der Nordsee: Ein Wiedehopf zu Weihnachten

aktualisiert:
12. Dez. 2025

Silke Hartmann, die Vogelguckerin

Schon als Kind interessierte sich Silke Hartmann für Vögel, aber kannte lange niemanden, der diese Begeisterung teilte. Um Gleichgesinnte zu finden, ging sie ins Internet und merkte schnell, dass es vielen Menschen so geht wie ihr früher. Deshalb gibt sie jetzt ihr Vogelwissen und ihre Begeisterung in Onlinekursen, ihrem Podcast „Vögel, aber cool!“, ihrem Blog und auf Instagram weiter. Ihr erstes Buch „Die Superkräfte der Vögel“ wurde zum „Wissensbuch des Jahres 2024“ gewählt. Ihr zweites Buch „Birding – Entdecke die Wunderwelt der Vögel“ richtet sich an Kinder ab 7 Jahre.

Moin, ich bin Silke,

wie schön, dass du da bist! Hier berichte ich dir Wunderbares und Wundersames über Vögel und ihre Welt. Außerdem erfährst du, wie du anfängst, sie schnell selbst zu sehen und immer besser darin wirst. Komm mit auf die Reise!

Wissensbuch des Jahres 2024: „Die Superkräfte der Vögel“

„Birding – Entdecke die Wunderwelt der Vögel“ – Mein neues Vogelbuch für Kinder ab 7

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1 Kommentar

  1. Wow, wie schön. Ich habe vor einigen Jahren mal einen Gleitaar in Wien gesehen und bin bis heute geflasht. An der Nordsee ist das ja ein Happening. Ich freue mich mit dir über diese tolle Begegnung. Rena

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