Wusstest du, dass es mitten in Deutschland eine Kolonie wildlebender Flamingos gibt? Na gut, nicht mitten in Deutschland, sondern eher am Rand, aber Deutschland ist Heimat der nördlichsten Kolonie von Flamingos überhaupt! Mehrere Monate im Jahr halten sie sich im Zwillbrocker Venn auf, einem Naturschutzgebiet im Kreis Borken in Nordrhein-Westfalen, unmittelbar an der Grenze zu den Niederlanden.
Im Zwillbrocker Venn gibt es von Februar bis August Rosaflamingos, Kubaflamingos und Chileflamingos zu bewundern. Sie kommen zum Brüten ins Venn und ziehen dort anschließend ihre Jungen groß. Es waren auch schon Zwergflamingos dabei. In Spitzenzeiten zwischen Mai und Juni sind hier bis zu 60 Flamingos zu sehen.
Die Wintermonate verbringen sie im südwestlichen Holland. Am Ende der Brutzeit fliegen sie erst in Rastgebiete wie IJsselmeer, Veluwemeer und Oostvaardersplassen und überwintern dann im Volkerakmeer im Rhein-Maas-Delta, bevor sie im Frühjahr wieder ins Zwillbrocker Venn zurückkehren.
Wie kommen die Flamingos ins Münsterland?
Tja, um es gleich vorwegzunehmen: Wo genau die Flamingos im Zwillbrocker Venn herkommen, ist ein großes Rätsel. Chileflamingos kommen normalerweise in Südamerika vor, Rosaflamingos in Süd-Europa, Afrika und Asien und Kubaflamingos in der Karibik und Südamerika. Alles ganz schön weit weg vom Zwillbrocker Venn.
Bei den Rosaflamingos in der Kolonie könnte es sich zum Teil um Wildvögel aus Südeuropa handeln, die bei ihren Erkundungsflügen das Venn entdecken. Wahrscheinlich sind die Chileflamingos, Zwergflamingos und Kubaflamingos jedoch aus Gefangenschaft entflogene Vögel, da wilde Flamingos dieser Arten nicht bis Europa ziehen.
Zu der Zeit, als die ersten Flamingos auftauchten, hat aber kein Zoo oder Tierpark Flamingos vermisst. Außerdem waren die ersten Flamingos nicht beringt. Flamingos in Gefangenschaft sind aber alle beringt. Es wird gemunkelt, dass sie von einem Händler freigelassen worden sein könnten, der für die Tiere keine Abnehmer gefunden hat und sie nicht durchfüttern wollte. Dass sie von Südamerika hierhergeflogen sein könnten, ist ziemlich unwahrscheinlich.
Der Beginn der nördlichsten Flamingo-Kolonie der Welt
1970 wurden im Zwillbrocker Venn erstmals zwei unbestimmte Flamingos beobachtet. Sie verschwanden plötzlich und ohne weitere Nachweise wieder. In den nächsten Jahren gab es weitere Einzelbeobachtungen im Venn und in der gesamten Region.
Im Jahr 1982 siedelten sich dann plötzlich sechs Chileflamingos im Venn an. Was das für eine Aufregung unter Vogelfans gewesen sein muss! Die Neuankömmlinge bauten zwar Nesters, es kam aber zu keinem Bruterfolg.
Im Jahr darauf erschienen im Frühjahr zwölf Chileflamingos im Venn. Sie bauten wieder Nester und brüteten. Diesmal schlüpften zwei Jungvögel. Ein Jungvogel starb und der andere Jungvogel wurde den Eltern weggenommen und in einen Tierpark gebracht. Die Zuständigen vermuteten damals, dass der Miniflamingo unter den Umweltbedingungen Mitteleuropas nicht flügge werden könne.
Auch in den Jahren danach wurden weitere Jungflamingos gefangen und eingesperrt. Die Menschen dachten, sie wüssten es mal wieder besser als die Natur. Nach mehreren erfolgreichen Brutjahren hörte dieses Kidnapping endlich auf.
1986 gehörte erstmals ein Rosaflamingo zur Flamingokolonie. Seit 1993 wurden auch Jungvögel des Rosaflamingos flügge. Im Jahr 1994 tauchte erstmals ein Kubaflamingo in der Kolonie auf. Ab 2006 tauchten auch immer mal einzelne Zwergflamingos unbekannter Herkunft im Zwillbrocker Venn auf.
Die Sichtung einzelner Flamingos im Gebiet endetet 1982 schlagartig. Die Kolonie im Venn zieht die Streuner magisch an. Woher die Vögel wissen, dass es dort Gleichgesinnte gibt, gehört zu den großen Rätseln der Vogelwelt.
FunFact: Da Flamingos 30 Jahre und älter werden können, ist es möglich, dass die allerersten Flamingos, die ins Venn kamen, noch immer Teil der Kolonie sind. Anfang Februar 2024 verstarb der Flamingo Ingo im Alter von mindestens 75 Jahre in Gefangenschaft in einem deutschen Zoo.
Was ist für Flamingos so toll am Zwillbrocker Venn?
Venn ist ein niederdeutsches Wort und es bedeutet Moor. Das ist natürlich sehr passend, denn das Gebiet mit dem Namen „Zwillbrocker Venn“ ist aus einem Hochmoor entstanden und umfasst heute Wald, Moor, Feuchtwiesen und kleine Seen. Bereits 1938 wurden Teile des Gebietes als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Nach dem Ende des Torfabbaus verblieb ein See mit geringer Tiefe. In diesem fühlen sich heute die Flamingos wohl. Er bietet aber auch anderen Tieren und vielen Pflanzenarten Heimat.
In enger Nachbarschaft mit Lachmöwen
Auf der Flamingoinsel im Zwillbrocker Venn brüten u.a. auch Lachmöwen. Viele Lachmöwen. Das Zwillbrocker Venn galt sogar lange als größte binnenländische Lachmöwenkolonie Deutschlands (ca. 16.000 Tiere in den 1980er Jahren). Seit dem Beginn der 1990er Jahre wurde eine deutliche Abnahme der Lachmöwenbrutpaare beobachtet. In den letzten Jahren ist die Zahl wieder leicht angestiegen. Im Jahr 2021 brüteten etwa 5.000 Lachmöwenpaare im Zwillbrocker Venn.
Der Kot der vielen Lachmöwen liefert ausreichend Nährstoff für Plankton in dem flachen Gewässer. Und von diesem Plankton ernähren sich die Flamingos im Venn.
Es ist normal, dass Flamingos in Kolonien brüten. Die Kolonie gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Aber auch die Lachmöwen sind für die Flamingos wichtig und tragen zu ihrem Sicherheitsgefühl bei. Das klingt erstmal ein bisschen absurd, wenn man sich die Größenverhältnisse vor Auge führt. Lachmöwen greifen jedoch jeden Angreifer an und attackieren ihn lautstark.
Besondere Schutzmaßnahmen
Die Nachbarschaft der Lachmöwen nützte den Flamingos jedoch nichts, als die Insel, auf der sie brüten, Ende des letzten Jahrtausends verlandete. Ab 1996 war sie für Prädatoren, also Feinde wie den Fuchs, trockenen Fußes zu erreichen. Von 1996 bis 2000 waren daher alle Bruten erfolglos.
Seit 2001 wird der Wasserstand im See reguliert und der See immer mal wieder ausgebaggert. Zusätzlich schützt ein Elektrozaun die Brutinsel. Seitdem brüten die Flamingos wieder erfolgreich und ziehen ihre Jungen groß.
Zwischen 1983 und 2005 bauten sie 177 Nester; 72 Jungvögel wurden flügge. Bis 2005 wurden pro Jahr ein bis acht Jungvögel flügge. Das ist ein Bruterfolg von 40,7 %. Dieser Wert ist etwa der gleiche wie in anderen Flamingokolonien auf der Welt.
Unterwegs im Zwillbrocker Venn
Das Zwillbrocker Venn ist als Beobachtungs- und Freizeitgebiet gut erschlossen. Rund um den See mit den Flamingos gibt es einen knapp sechs Kilometer langen Wanderweg. Der Boden ist nicht befestigt und deshalb nach Regen nur bedingt barrierefrei. Unterwegs gibt es zwei barrierefreie Beobachtungshütten und einem (nicht-barrierefreien) Aussichtsturm.
Ein Spektiv ist sinnvoll, aber auch ohne gibt es genug zu sehen. Du solltest ein Fernglas dabeihaben.
Besonderer Tipp: Seit 1987 werden die Jungvögel der Kolonie beringt. Seit 1995 werden 5,5 cm hohe Plastikringe mit Code genutzt. Diese Code-Ringe kannst du mit dem Fernglas ablesen und die genauen Daten zu diesem Individuum erfahren (zum Beispiel hier bei Euring).
Diese Vogelarten erwarten dich
Im Zwillbrocker Venn brüten neben Lachmöwen, Chile- und Rosa Flamingos auch
- Blaukehlchen,
- Schwanzmeise,
- Wiesenpieper,
- Rohrweihe,
- Blesshuhn,
- Höckerschwan,
- Knäkente,
- Krickente,
- Löffelente,
- Bekassine,
- Schwarzhalstaucher,
- Wasserralle,
- Zwergtaucher
- und viele andere Vogelarten.
Zwischen all den Lachmöwen kannst du mit ein bisschen Geduld sogar Schwarzkopfmöwen erspähen.
Anreise zum Zwillbrocker Venn
Die Anreise ist nur mit Fahrrad und PKW sinnvoll durchzuführen. Aus Münster, Arnhem (NL) und dem nördlichen Ruhrgebiet brauchst du eine gute Stunde. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln brauchst du hingegen sehr gute Nerven.
Es führen mehrere Radwanderwege aus Deutschland und den Niederlanden zum Zwillbrocker Venn.
Wenn du ein bisschen mehr Zeit hast, kannst du dich mit dem Fahrrad auf die 450km lange Flamingoroute begeben. Die führt dich an weiteren lohnen Orten in Deutschland und den Niederlanden vorbei. Weitere Infos zur Flamingoroute gibt’s hier.
Fazit
Im Zwillbrocker Venn erwartet dich eine kleine, bequeme Safari mit ungewöhnlichen Sichtungen. Die Flamingos in Mitteleuropa frei fliegen zu sehen ist ein ganz besonderes Erlebnis. Aber selbst wenn die Flamingos grade mal nicht da sind, ist das Zwillbrocker Venn eine Reise wert.
Herzlichen Dank an Thomas Griesohn-Pflieger von birdingtours, der sein detailiertes Hintergrundwissen mit mir geteilt hat.
Weitere coole Orte zum Vogelgucken gibt’s zum Beispiel rund um Göttingen, in den Elbauen und auf Helgoland.
Auch wenn es schwer fällt: Bitte teile keine echten Geheimtipps öffentlich, sondern nur Orte, an denen die Vögel und die Natur im allgemeinen gut mit ein paar mehr Menschen klarkommen.
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