Als ich am Montagmorgen viel zu früh im Zug Richtung Süden saß, war ich richtig aufgeregt vor lauter Vorfreude. Seitdem ich zum allerersten Mal von den Waldrappen gelesen hatte, habe ich mir gewünscht, sie mal in Freiheit zu sehen. Und in dieser Woche sollte es endlich so weit sein.
Ich durfte an zwei Tagen das Trainingscamp in der Nähe des Bodensees besuchen und wollte mir natürlich auch die bisher einzige Kolonie von freilebenden Waldrappen in Deutschland ansehen. Schon im letzten Jahr habe ich für mein Buch zu Waldrappen und dem europäischen Wiederansiedlungsprojekt recherchiert und dazu mit Johannes Fritz, dem Leiter des Waldrappteams, gesprochen. Weil mich das Thema so begeistert, habe ich in diesem Jahr auch noch die erfahrene Ziehmutter Helena Wehner für meinen Podcast interviewt, damit ihr auch von ihrer spannenden Arbeit mit den Vögeln erfahrt. Jetzt war es also endlich Zeit, das Waldrapp-Projekt nicht nur aus Erzählungen zu kennen, sondern die Vögel auch mal selbst zu erleben.
Kurz vorab zum Hintergrund:
Was ist das Waldrapp-Projekt?
Waldrappe sind Ibisvögel, die ursprünglich in Europa lebten, aber hier bereits im 17. Jahrhundert ausgerottet wurden. Das Waldrapp-Projekt ist ein sehr aufwendiges europäisches Artenschutzprojekt, das sich der Wiederansiedlung der Waldrappe in Deutschland, Österreich und der Schweiz widmet. Die Herausforderung dabei: Waldrappe sind Zugvögel und müssen hier bei uns auch ziehen, weil sie im Winter nicht genug zu fressen finden. Sie lernen den Zugweg jedoch von anderen Waldrappen.
Aber zum Glück haben die Artenschützer*innen eine Lösung gefunden: Für das Projekt werden Küken kurz nach dem Schlupf aus Zoopopulationen entnommen und auf menschliche Zieheltern geprägt. Nach wenigen Monaten werden sie dann von den Zieheltern mithilfe von Ultraleichtfliegern in ihr Überwinterungsgebiet geführt und dort ausgewildert. Nach zwei Jahren kehren sie selbstständig in die Gebiete zurück, in denen sie aufgezogen wurden, um dort zu brüten.

Was ist das Trainingscamp?
Bevor das große Abenteuer startet, werden die Waldrappe auf die Reise vorbereitet. Das passiert im Trainingscamp. Dort lernen die jungen, von Hand aufgezogenen Waldrappe, den Fluggeräten mit ihren Ziehmüttern zu folgen, damit sie ins Wintergebiet geführt werden können.
Das Camp liegt in der Nähe der Stelle, an der die Waldrappe später brüten und sich ansiedeln sollen. In diesem Jahr ist es in Binningen in Baden-Württemberg, auf halber Strecke zwischen Bodensee und Donaueschingen.

Das Herzstück des Camps ist die Voliere, in der die Waldrappe leben. Sie liegt allerdings nicht mitten im Camp, sondern außer Sicht etwas abseits vom eigentlichen Camp, damit sich die Waldrappe nicht an Menschen gewöhnen. Wer die Waldrappe sehen will, muss großen Abstand halten und sich leise und unauffällig verhalten.
Die speziellen Herausforderungen bei dieser Migration
Aufzucht, Training, Migration sind eigentlich nach all den Jahren Erfahrung schon fast Routine für das Waldrappteam, aber in diesem Jahr haben die Menschen ganz besondere Herausforderungen.
Die neue Route
Erstmalig hat sich das Waldrappteam eine neue Route vorgenommen, die 2,5x länger ist als sonst. Sie führt bis ins spanische Andalusien.
Menschgemachte Probleme
Bisher ist die Gruppe aus Menschen in Fluggeräten und Waldrappen über die Alpen ins Wintergebiet in der Toskana geflogen. Aber die Klimakrise schlägt auch bei den Waldrappen zu: Durch die milden Temperaturen im Herbst sind die großen Vögel in den letzten Jahren immer später losgeflogen und bekamen dann in den Alpen Probleme mit der Thermik. Diese ist weniger stark, wenn die Temperaturen sinken. Das Team musste deshalb immer wieder Waldrappe diesseits der Alpen einsammeln, die nicht mehr über die Gipfel segeln konnten, und mit dem Auto auf die andere Seite der Berge fahren. Im letzten Winter waren es 46 Vögel, die dort festsaßen.
Ein Waldrapp (Ingrid) hatte sich im vergangenen Jahr allerdings von der Gruppe abgesetzt und war alleine die Alpen entlang bis nach Frankreich geflogen. Auch andere, alleine fliegende, unerfahrene Individuuen hatten zuvor schon diese Südwest-Richtung eingeschlagen. Vielleicht ist das ja eine alte Zugroute, ganz ohne Thermikprobleme? Der Ausreißer im letzten Jahr brachte das Waldrappteam auf eine Idee:
Menscherdachte Lösungen
In Spanien gibt es auch ein Waldrapp-Wiederansiedlungsprojekt. Die Waldrappe dort bilden eine sesshafte Kolonie und ziehen nicht. Der Plan ist jetzt, dass „unsere“ Waldrappe 2.300 Kilometer bis nach Andalusien geführt werden und dort mit den spanischen Vögeln überwintern. Von dort aus fliegen sie im übernächsten Jahr hoffentlich wieder selbstständig zurück, um in der Nähe des Bodensees zu brüten.
Diese Strategie wäre ein Gewinn für beide Projekte. Unsere Vögel bekämen ein Winterquartier, das sie erreichen können, egal, wann sie losziehen. Und sie würden durch ihren Rückflug ins Brutgebiet das Sommer-Problem des spanischen Gebiets umgehen. Dort ist es nämlich in den letzten Jahren immer trockener geworden, sodass nur noch wenige der dort geschlüpften Küken großwerden.

Die aktuelle Gruppe
Die neue Route klingt also nach einem guten Plan. Theoretisch zumindest. Eine zusätzliche Herausforderung in diesem Jahr ist jedoch die diesjährige Gruppe. Denn die 35 Vögel der diesjährigen Handaufzucht sind spezieller als sonst.
Jeder Vogel ist eine eigene Persönlichkeit und so ist die Gruppe und die Gruppendynamik in jedem Jahr anders. Und in diesem Jahr ist das ein Problem. Die Mitglieder des Waldrappteams wissen noch nicht, was genau in diesem Jahr anders ist oder woran es liegt. Sind die Vögel schwer von Kapee? Eigensinnig? Mutiger als sonst? Eigenständiger? Ängstlicher?
Tatsache ist: Es scheint noch nicht Klick gemacht zu haben. Die Vögel bleiben in der Luft noch nicht zuverlässig bei ihrer Ziehmutter am Fluggerät, sondern erkunden alleine die Gegend. Und deshalb hängen sie leider dem Plan und den Gruppen der letzten Jahre zeitlich hinterher – ausgerechnet in diesem Jahr, in dem doch erstmalig diese weite Strecke ansteht.
Im Camp
Alltag im Waldrapp-Camp
Wie speziell die jungen Waldrappe sind, konnte ich bei meinem Besuch im Camp live miterleben. Aber erst einmal musste am ersten Morgen das Flugtraining wegen zu starken Winds ausfallen. Stattdessen lernte ich das Campleben etwas näher kennen, hatte Zeit, alle meine Fragen zu stellen und viel Neues zu erfahren. Spannend fand ich dabei, die andere Seite kennenzulernen, die so wichtigen, alltäglichen, gänzlich unglamourösen Hintergrundarbeiten, wie Mehlwürmer sortieren oder die Kiste mit den Heimchen säubern (mjam).
Außerdem hatte ich Gelegenheit, die Waldrappe aus der Ferne zu beobachten, wie sie in der Voliere herumturnten, flatterten und im Boden pickten. Und auch Helena Wehner und ihre diesjährige Co-Ziehmutter Barbara Steininger konnte ich sehen, wie sie mit den Vögeln redeten, sie streichelten, sich von ihnen untersuchen ließen und verhinderten, dass die Vögel ihnen mit ihren langen, dünnen Schnäbeln ins Ohr prokelten.

In der Voliere verbringen die Ziehmütter einen Großteil der Tage mit ihren Schützlingen.
Flugtraining
Am zweiten Morgen war das Wetter zwar auch unbeständig, Regen wurde aber erst später am Tag erwartet, so dass das Flugtraining stattfinden konnte. Aber statt wie geplant in Begleitung ihrer Ziehmutter Barbara Steininger im Fluggerät aufzusteigen, flogen die 35 Waldrappe ganz allein los, ohne auf das Fluggerät zu achten. Ähm, tja.
Wir fanden die Vögel einige Zeit später auf einem Acker zwei, drei Kilometer entfernt vom Camp wieder. Sie saßen alle zusammen und stocherten friedlich im Boden. Dort durfte ich dann auch etwas tun: Ich versuchte, sie mit dem Auto aufzuscheuchen. Die Hoffnung war, dass sie dann unsicher werden und sich entscheiden, ins sichere Camp zurückzufliegen. Mein Hupen, Blinken und schnelles Fahren interessierte die Vögel aber nur so mäßig und sie ließen sich von mir nicht aus der Ruhe bringen.
Schließlich kam das Fluggerät mit der Ziehmutter an Bord und sammelte die Vögel wieder ein. Sie drehten noch eine Runde und kehrten dann gemeinsam zum Camp zurück. Anschließend erkundeten die Vögel noch ein bisschen den Flugplatz, trippelten in den Hangar und wieder heraus, holten sich Mehlwürmer und Streicheleinheiten von ihren Ziehmüttern, hockten auf der Voliere und irgendwann dann auch mal wieder alle in der Voliere. Alle waren um eine Erfahrung reicher.

Waldrapp-Erziehung
Zumindest das Einsammeln hielt ich eigentlich für einen Erfolg, denn als die Ziehmutter sie aus dem Flieger rief, stiegen die Waldrappe schnell auf und flogen dann mit dem Fluggerät weg, aber Johannes Fritz relativierte das später. Er erklärte mir, dass das Einsammeln zwar notwendig gewesen und gut gelaufen sei, es pädagogisch betrachtet aber nicht so cool war, dass sie den Vögel hatten nachgeben müssen.
Ihr kennt das vielleicht aus der Hundeerziehung oder von Ponys, die geführt werden: Die Menschen geben den Weg vor, die Tiere folgen. Und so soll das auch bei den Waldrappen sein. Die Vögel müssen lernen, dem Fluggerät zu vertrauen und zu folgen; Sonst kommt der Trupp ja nie in Spanien an.
Es bleibt also noch ein bisschen was zu tun für das Waldrappteam, bevor sie auf ihre lange Reise aufbrechen können. Aber Vögel sind ja immer für eine Überraschung gut und es bleiben noch ein paar Tage, in denen es bei den Waldrappen Klick machen könnte, also: Daumen drücken!
Die Kolonie in Überlingen
Vom Trainingscamp aus fuhr ich noch bei den wildlebenden Waldrappen vorbei, die in der Nähe von Überlingen am Bodensee brüten. Bei aller Faszination für die menschgeführte Migration ist diese Kolonie das eigentliche Wunder.
Die Elterngeneration dort wurde ebenfalls von Hand aufgezogen, in die Toskana geführt und dort ausgewildert. Zwei Jahre später kamen die ersten zurück, um hier zu brüten und ihre Jungen aufzuziehen. Am Ende des Sommers führten sie ihre eigenen Jungen ins Wintergebiet. Das ist das eigentliche Ziel all der Bemühungen des Wiederansiedlungsprojekts: eine wildlebende, selbstständige Population, die ohne weitere menschliche Hilfe klar kommt.
An der Brutwand
Noch brüten die meisten der Rückkehrer aus Gewohnheit in einer künstlichen Brutwand. Dort konnte ich die noch nicht flüggen, aber freilebenden Waldrappe stundenlang beobachten. Ich konnte dabei gut erkennen, welche Jungvögel zusammengehören und Geschwister sind, welche von ihnen schon älter und welche ein paar Tage jünger sind. Sie verhielten sich insgesamt eher ruhig, fast phlegmatisch.


Aber als die Altvögel kamen, kam Leben in die jungen Waldrappe; zumindest wenn es ihr eigenes Elternteil war. Sie trillerten leise und ich hörte auch das charakteristische „Chrubb, chrubb“, für das ich mich sehr begeistere. Die Altvögel ließen sich sehr selten sehen, denn die Jungen sind schon relativ groß und bald selbstständig. Und mega aufdringlich sind sie auch, wenn ihre Eltern vorbeikommen.
So ungefähr klingt übrigens ein Waldrapp:
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Weitere Informationen

Wer auch zufällig vorbeikam, war Anne Schmalstieg. Sie ist ebenfalls eine erfahrene Ziehmutter und betreut jetzt die Kolonie in Überlingen. Ich habe mich super gefreut, sie zu treffen, denn ich kannte sie bereits von der Projektwebseite. Dass sie mich auch von Instagram kannte war sehr witzig und zugleich praktisch, denn so hatten wir beide das Gefühl, un schon zu kennen und ich konnte gleich mittendrin weiterfragen.
- Warum sind die Waldrappe so still? Weil sie noch jünger sind als die Waldrappe im Camp und weil die meiste Interaktion mit den Eltern stattfindet.
- Warum kommen die Eltern so selten zum Füttern? Weil sie mehr Futter auf einmal aufnehmen können und weil die Minis hier langsam selbst auf Nahrungssuche gehen sollen.
- Wie viel Nachwuchs hattet ihr in diesem Jahr? Wie viele der Jungvögel sind schon ausgeflogen? Wie lange brauchen die jüngsten hier noch? Und wie läuft es eigentlich in den Felsnischen?
- Wie ist das so, diese besonderen Vögel ganz persönlich zu kennen, ihre Entwicklung zu begleiten und jedes Jahr wieder zu sehen?
- Und wo sind eigentlich die natürlichen Felsnischen?
Die große Freiheit
Anne Schmalstieg erklärte mir auch genau, wo ich den zweiten Teil der Kolonie sehen konnte, denn die Brutwand ist nur eine Brückentechnologie. Das Ziel ist, dass die Waldrappe die natürlichen Felsnischen weit oben in den steilen Sandsteinwänden direkt am Seeufer besiedeln, die einen knappen Kilometer Luftlinie entfernt von der Brutwand sind. Hier mit einer fabelhaften Aussicht auf den See haben vermutlich schon vor hunderten Jahren Waldrappe gebrütet.
Inzwischen geht da leider eine der nervigen Uferstraßen direkt vorbei, die wir Menschen besonders am Bodensee in bester Lage zu bauen pflegen. Aber zumindest ein Waldrapppaar hat dort bereits im zweiten Jahr in Folge seine Jungen groß gezogen (nachdem es ein bisschen von ihren menschlichen Zieheltern angestubst wurde). Anne Schmalstieg hat auch schon einen Plan, wie sie die anderen im nächsten Jahr noch besser zu einem Umzug motivieren kann.

Ein Grund zur Hoffnung
Mich begeistern und faszinieren die internationalen Bemühungen um diesen charismatischen Vogel. Bei all der Zerstörung, die wir Menschen auf diesem Planeten anrichten, zeigen die Waldrapp-Projekte, dass wir auch anders können. Wir können bewahren, schützen und kümmern, wenn wir uns dafür entscheiden.
Klar macht eine Vogelart, die seit 400 Jahren in diesem Lebensraum ausgestorben ist, keinen riesen Unterschied für die bestehenden Ökosysteme (oder vielleicht doch?). Und anders als bei vielen anderen Vogelgschutzprojekten (wie beim Braunkehlchen oder dem Rebhuhn) profitiert bei diesem mehrere Millionen Euro teurem Projekt nur eine Art von den Schutzbemühungen. Aber diese eine Art zeigt, wozu Menschen fähig sind – im positiven wie im negativen Sinn.
Noch immer machen wir den Waldrappen das Leben schwer. Stromschlag an ungesicherten Leitungen und illegale Abschüsse töten Jahr für Jahr sinnlos Vögel. Durch die Aufmerksamkeit, die die auf diese Arten getöteten Waldrappe bekommen, werden auch andere Vogelarten sichtbar, die so völlig unnötig zu Tode kommen.
Die Folgen der Klimakrise sind die größte Bedrohung für das Wiederansiedlungsprojekt, wie auch für viele andere Vogelarten. Natürlich auftretende Phänomene werden durch die Klimakrise verstärkt. So starben im letzten November bei einem schweren Unwetter in der Toskana in nur einer Nacht 27 Waldrappe und versetzten dem Projekt einen schweren Schlag.
Das Ziel des Waldrappteams ist, dass bis 2028 wieder eine wilde, ziehende Population im Alpenraum lebt, die ohne menschliche Hilfe klarkommt. Dafür muss die Population aus ungefähr 360 Individuen bestehen. Wie weit der Weg dorthin tatsächlich noch ist und ob die Vögel mit den sich viel zu schnell ändernden klimatischen Bedingungen klarkommen, ist schwer voraussagbar, aber der Kampf lohnt sich. Für mich sind die internationalen Bemühungen um die Wiederansiedlung des Waldrapps ein Grund, um daran zu glauben, dass wir den Rest auch noch hinbekommen könnten.
Hallo Silke, danke für deine vielen Berichte, Anregungen, Erklärungen!
Speziell über das Waldrapp-Projekt bin ich sehr erfreut zu hören, denn ich verfolge bereits seit vielen Jahren dieses spannende, lohnende Unternehmen, mit Leichtflugzeugen den Waldis ihre Flugroute in die Toskana zu zeigen. Nochmal aufregend wird es heuer, die neue Route nach Spanien zu fliegen… ich verfolge die Flüge immer im Internet und drücke die Daumen für gutes Gelingen!!
Danke und liebe Grüße, Edda
Hallo, liebe Edda,
wie schön, dass du dich auch für das Wiederansiedlungsprojekt begeisterst. Dann drücken wir ja den Waldrappen ab sofort gemeinsam die Daumen.
Vielen Dank für deine Nachricht und herzliche Grüße zurück
Silke